Dass die Musikpädagogik ein unglaublich weites, kreatives und persönliches Feld ist, zeigt diese Seite, glaube ich, bisher schon ganz eindrücklich. Oft wird sie aber genau darauf eingeschränkt: „Du spielst dann bestimmt ein Instrument“, „Ja, das ist schon toll, wenn man gut mit Kindern kann“, „Wie ist das eigentlich, wenn man auf Abruf kreativ sein muss, das könnte ich nicht“, sind Sätze die man immer wieder zu hören bekommt, wenn man Musikpädagogik studiert. Was viele gar nicht auf dem Schirm haben: Die Wissenschaft hinter der Musikpädagogik. Und genau das ist ein Bereich, der mich im Moment sehr fasziniert.

Immer wieder tauchen in Diskussionen um Bildung verschiedene Konzepte auf, von denen Menschen entweder sehr viel halten oder gar nichts. Die „Waldorfschule“ ist ein so ein Beispiel, wo wohl jede/r eine Meinung zu hat. Doch wo liegt da eigentlich die „Wahrheit“? Kann es ein allumfassendes Konzept geben, das jedem Kind gerecht wird? Wie messe ich Erfolg von Bildungskonzepten?

Nachdem ich meine Bachelor-Arbeit geschrieben hatte, fing ich an, mich tiefer mit Wissenschaftlichkeit in der Musikpädagogik zu beschäftigen. Und ich finde, die Frage nach dem „richtig“ und „falsch“ ist in diesem Fach schwer zu beantworten. In einigen Fragen gibt es aber ein „richtig“ und auch ein „falsch“, das werde ich weiter unten erläutern. In anderen Fällen geht es um individuelle Entscheidungen und Vorlieben. Und es ist wichtig, dass wir das eine vom anderen unterscheiden und uns nicht verleiten lassen, Konzepten „blind“ zu folgen.

Es gibt Lehrwerke, die Wörter wie „echt“ oder „vollendet“ im Titel tragen1. Während C.P.E. Bach seinen Titel noch mit „Versuch“ quasi revidiert („Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“), wie es damals mehrere Lehrende taten, nennt Johann Mattheson sein Lehrwerk „Der vollkommene Capellmeister“. Hier werden normative Entscheidungen getroffen, was denn ein Capellmeister können muss, um „vollkommen“ zu sein. Solch normative Entscheidungen basieren auf jahrzehnte- oder gar jahrhundertelangen Erfahrungen, sie basieren auf Werten, die unsere Kultur oder sogar die ganze Welt als „richtig“ anerkennt, und sie sind auf keinen Fall in irgendeiner Form minderwertig. Wir sind auf solche Entscheidungen angewiesen. Die Qualität einer solchen Entscheidung macht ihre Anbindung an wissenschaftliche Erkenntnisse und die Bestätigung in der praktischen Erfahrung aus. Diese normativen Entscheidungen werden in die „Musikdidaktik“ eingeordnet. In diesem Bereich geht es um die Planung und Analyse der Praxis, also des Musikunterrichtes, egal in welchem Kontext.2 Die Didaktik gründet sich auf den Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Plausibilität didaktischer Aussagen wird an Erkenntnisse der Wissenschaft anknüpfen, aber sie selbst sind nicht wissenschaftlich, im Sinne von „die einzige Möglichkeit/Wahrheit sein“. Didaktisches Material (beispielsweise Stundenentwürfe, Methoden) erscheint trotzdem leicht als beste Möglichkeit und AutorInnen didaktischer Konzepte aufgrund jahrelanger Expertise als unfehlbar3. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass Normativität immer hinterfragbar bleiben muss. Denn sonst landen wir in einer Ideologie, in der eine normative Entscheidung als „Wahrheit“ propagiert wird.

Soweit zur Didaktik, dem „Handwerkszeug“ für die Praxis. Doch welche „Wissenschaft“ steht denn noch dahinter? Und wie legitimiert sich diese zu einer „Wahrheit“? Einige werden vielleicht schon dran gedacht haben: Musikwissenschaft wird wohl gemeint sein, oder Entwicklungspsychologie. Oder Physik, denn Musik ist doch ein physikalisches Phänomen? Und genau das ist eine der großen Problematiken aus meiner Sicht: Die Musikpädagogik als Wissenschaft ist noch recht jung, die Publikationen mehren sich erst seit den 1970er Jahren. Viele angrenzende Wissenschaften, die für die Musikpädagogik höchst relevant sind, sind hingegen älter. Hier haben sich Methoden längst etabliert, man hat sich auf Begriffe verständigt und tritt mit einer langen Historie und einem dementsprechenden Selbstbewusstsein auf. Irgendwo in diesem „Dschungel“4 von Begriffen, die aus anderen Fachbereichen an die Musikpädagogik herangetragen werden und die mangels Fachwort für bestehende Phänomene von AutorInnen neu entwickelt werden, muss sich die Musikpädagogik nun behaupten.

Wissenschaftlich ist all das, was objektiv begründbar ist. Dabei kann ganz verschieden vorgegangen werden. In der historischen Musikpädagogik zum Beispiel können alte Lehrbücher beforscht werden5, alles was darin steht, ist zwar subjektiv, die Auswertung als ganzes, beispielsweise in Kategorien, ist aber vereinheitlicht und garantiert damit größtmögliche Objektivität.

Die komparative (vergleichende) Musikpädagogik vergleicht Unterricht in verschiedenen Ländern und Kulturen6. Auch hier wird – ähnlich zur historischen Musikpädagogik, beispielsweise mit Kategorien gearbeitet.

In der empirischen Musikpädagogik werden Zahlen und Datensätze ausgewertet7. Hier können zum Beispiel Testreihen durchgeführt werden, in denen Fehlerquoten von SchülerInnen in einer bestimmten Aufgabe objektiv erhoben werden.

Die systematische Musikpädagogik hat das Ziel, Grundlagen des Faches zu klären, zum Beispiel, welche Kategorien genutzt werden, wie Ordnungssysteme aufgebaut sein sollen und benannt werden, wie Begriffe sich definieren8. Hier scheinen noch am ehesten normative Entscheidungen getroffen zu werden. Doch die systematische Musikpädagogik arbeitet mit der Gesamtheit dessen, was vorkommt. Begriffsdefinitionen und Kategorisierung soll dies nicht beeinflussen, sondern lediglich Kommunikation darüber ermöglichen.

Nun klingt diese Aufzählung nach Ordnung, nach Durchschaubarkeit und einer guten Grundlage, sich gegenüber anderen Fächern zu positionieren und die Wissenschaft der Musikpädagogik zu legitimieren. Aber noch wird darüber viel diskutiert. Die Problematik: Viele Fragestellungen von Studien und Forschungen lassen sich nicht einfach in einen dieser Bereiche einordnen. Teilweise verschwimmen die Bereiche auch ineinander und AutorInnen nutzen leicht verschobene Bezeichnungen9. Die Einordnung in eine Schublade wird oft auch als nicht sinnig angesehen, da wissenschaftliche Fragestellungen sich häufig an der Praxis orientieren und diese von sehr komplexen Zusammenhängen bestimmt ist.

Worauf will ich also eigentlich mit dieser Betrachtung hinaus? Es war für mich „die“ Erkenntnis schlechthin, wie ich Ideen, Konzepte, Methoden sachlich richtig und prüfbar bewerten kann. Auf welcher Grundlage die – von einigen Vertretern gut verteidigten – Methoden eigentlich zu hinterfragen sind und wie man fern von allen Meinungsdiskussionen zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis in der Pädagogik kommen kann, einem Feld, dass doch so von „Erfahrung“, „das funktioniert so“ und „das müssen Kinder meiner Meinung nach lernen“ geprägt ist. Denn eines ist doch unser aller Ziel: Die bestmögliche Förderung jedes einzelnen Kindes, das zu uns kommt. Und jedes Kind ist einzigartig und es gibt zu jeder Regel ein Kind, dass uns das Gegenteil beweist. Aber es ist uns auch bewusst, dass es gewisse Regelmäßigkeiten gibt, die bei fast allen Kindern auftauchen. Und wie man diese erkennen kann und für das eigene Unterrichten fruchtbar machen kann, ohne dabei alle Kinder über einen Kamm zu scheren und ohne nur aus der Erfahrung heraus zu handeln, nach dem Prinzip „trial and error“, das lehrt uns die Wissenschaft und ihre Methoden. Ein Feld, mit dem sich nicht jede Musiklehrkraft zwangsläufig beschäftigen muss, denn das klassische „Handwerkszeug“ reicht durchaus für qualitativ hochwertigen Unterricht, aber doch ein Feld, das sehr spannend ist und zu neuen Erkenntnissen führen kann.

Oberkapitel: Pädagogik/Musikpädagogik

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1Kruse-Weber, S.; Marin, C.: Instrumentalpädagogik als Wissenschaftsdisziplin – Rahmenbedingungen und Entwicklungstendenzen. In: Clausen, B., Cvetko, A. J.; Hörmann, S.; Krause Benz, M.; Kruse-Weber, S. (Hrsg): Grundlagentexte wissenschaftlicher Musikpädagogik – Begriffe, Positionen, Perspektiven im systematischen Fokus. Münster 2016, S.157-227.

2Meidel, E.; Hörmann, S.: Orientierung im Begriffsdschungel – terminologische und fachstrukturelle Perspektiven zur Profilierung der Musikpädagogik und Musikdidaktik. In: Clausen, B. et. al. 2016, S.11-68.

3Ebd.

4Ebd.

5Ebd.

6Clausen, B.: Komparativ – Vergleichend – International: Zu einem Forschungsparadigma Wissenschaftlicher Musikpädagogik. In: Clausen, B. et. al. 2016, S.107-155.

7Meidel, E.; Hörmann, S.: Orientierung im Begriffsdschungel – terminologische und fachstrukturelle Perspektiven zur Profilierung der Musikpädagogik und Musikdidaktik. In: Clausen, B. et. al. 2016, S.11-68.

8Ebd.

9Ebd.