Ich bin Studentin im letzten Jahr. Mein Praktikum mache ich einmal in der Woche in einer Gruppe mit Erstklässler/innen. Einige Kinder, insbesondere Mädchen sind zeitweise sehr kuschelig, hängen quasi an mir dran. In der Nachbesprechung fragt mich meine Dozentin, wie ich damit umgehe. Ich lasse es zu, solange es den Unterricht und mich selbst nicht stört. „Du kannst das so machen, bei einem Mann sähe das ganz anders aus“, wird mir gesagt.

Andere Situation, wir sitzen in einem Seminar und besprechen unsere Unterrichtserfahrungen. Ein Mitstudent erzählt, dass die Kindergartenkinder seiner Gruppe Körperkontakt suchen, sie wollen mit ihm toben. Er ist alleine mit der Gruppe, hat Angst, dass Gerüchte oder gar Vorwürfe von Missbrauch entstehen könnten. Gerne würde er mit den Kindern spielen, sie trösten, wenn sie weinen, ohne sich dabei unwohl zu fühlen.

Die Unsicherheit bei den männlichen Studenten ist groß, auch die Frauen wissen keinen Rat. Unsere Dozentin hat noch keinen Fall von Verdächtigungen oder ähnlichem erlebt, mahnt zur Ruhe und Bedachtheit. Ich versuche mich an einer Recherche, doch die Ergebnisse sind rar.

Häufig in der Literatur behandelt ist der Fall des Instrumentalprofessors/-lehrers und der Schülerin (und ich wähle hier absichtlich diese Kombination, denn Literatur über Täterinnen finden sich nicht), die alleine in einem Raum sind. Auch der Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch in Kindergärten und dem Generalverdacht gegenüber Männern wurde von einigen Autor/innen untersucht. Hier gibt es also Anknüpfungspunkte, an denen wir uns vielleicht orientieren können. Ich bin der Meinung, dass es an der Zeit wäre, auch für die musikalische Früherziehung Ideen zu entwickeln, die dazu führen, dass echter Missbrauch schnell entdeckt und Kinder geschützt werden können, die aber auch Musikpädagogen entlasten, und ihnen ermöglichen, genau wie ihre Kolleginnen unbeschwert mit den Kindern zu arbeiten.

WICHTIG: Kinder denken sich sexuellen Missbrauch in der Regel nicht aus. Nur vier Prozent der Verdachtsfälle sind falsche Beschuldigungen. Oft ist dies der Fall, wenn Eltern sich trennen und einen Sorgerechtsstreit führen. Kinder können dann den Vater beschuldigen, weil sie sich dazu gedrängt fühlen oder als Jugendliche auch aus Eigenmotivation (Wais 2010). Wenn Kinder von Übergriffen berichten, sollten sie IMMER ernst genommen werden und Fachleute eingeschaltet werden ohne das Kind zu gefährden. An dieser Stelle geht es allerdings nicht um den Umgang mit tatsächlichem Missbrauch, sondern um die Ängste von Musikpädagogen, die mit kleinen Kindern arbeiten und den „Generalverdacht“ gegenüber Männern in Erziehungsberufen.

Geschichte männlicher Erziehung

Die Geschichte männlicher Erziehung ist noch jung. Zwar gibt es schon seit langem immer wieder die Forderung nach männlichen Erziehern. Ein berühmtes Beispiel ist Fröbel (1782-1852), der damit allerdings auf taube Ohren stieß und auch keine Männer fand, die bereit gewesen wären einen Erziehungsberuf zu erlernen. In den 1920ern entwickelte sich dann in Nordamerika die Pfadfinderbewegung. Gegen die vermeintliche „Verweiblichung“ von Jungen wurde hier in rein männlichen Gruppen miteinander gearbeitet, zumeist in der freien Natur. Erst seit den 1980er Jahren jedoch wird die Bedeutung von Männern und Vätern für die Erziehung erforscht. In den 1990ern nahm die Diskussion darum, dass Frauen in der Erziehung zu dominant seien, an Fahrt auf (Aigner et al. 2011, S.17). So lässt sich auch erklären, dass immer noch extrem wenige Männer Erzieher werden und Vorurteile herrschen.

Männliche Erziehung heute

Zahlen zu männlichen Musikpädagogen oder der Zahl von Früherziehungsgruppen, die durch Männer angeboten werden, sind nicht zu finden. In den Kindergärten und Krippen gilt aber: Je jünger die Kinder, desto weniger männliche Erzieher. 2017 waren in Deutschland nur 5,8% der Kindergartenerzieher/innen inklusive Praktikant/innen, FSJler/innen, etc. männlich (Nier 2018). Die Vermutung liegt nahe, dass es bei Musikpädagog/innen in der Arbeit mit Kindern und Kleinkindern ähnlich aussieht.

Der „Generalverdacht“

In einer repräsentativen Studie von Krabel et al. zeigte sich, dass 40% der Eltern, 43% der Leitungen von Kindertagesstätten und 48% der finanziellen Träger schon einmal über die Gefahr des Missbrauchs durch männliche Erzieher nachgedacht haben. Allerdings befürworten 90% eben dieser Befragten, dass sowohl weibliche als auch männliche Fachkräfte Kinder betreuen. Die Autoren schließen daraus, dass der Generalverdacht zwar existiert, aber auch kritisch reflektiert wird (Krabel et al. 2013). Trotzdem sind Männer in Erziehungsberufen vorsichtig, vermeiden pflegerische Tätigkeiten oder wechseln die Arbeitsstelle, wenn sie sich nicht akzeptiert fühlen oder Gerüchte aufkommen (Scherler 2019). Klagen gegen Ungleichbehandlung lassen sich nicht finden.

Die Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ in Berlin weißt zudem darauf hin, dass die Nutzung des Begriffes „Generalverdacht“ zwar fachlich korrekt, allerdings nicht unproblematisch ist. Der Begriff könne den Verdacht bei Personen, die bisher keine Vorurteile gegenüber männlichen Pädagogen hatten, erst entstehen lassen. (Cremers und Krabel 2014, S.6)

Möglicher Umgang mit dem „Generalverdacht“

Es wird empfohlen, Leitlinien für den Umgang mit Kindern zu schaffen, welche für alle Beschäftigten gleichermaßen gelten (Krabel et al. 2013). Außerdem sei es sinnvoll, den Erzieher/innen zu empfehlen, so wenig Körperkontakt mit den Kindern aufzunehmen wie möglich. Laut Cremers und Krabel (2014, S.12) sei das Standard in den USA und Neuseeland. Oft suchen, wie oben berichtet, aber selbst sechsjährige Kinder noch Körperkontakt und kuscheln, bei Verletzungen auch noch ältere Kinder. Dieses Bedürfnis abzuwehren scheint mir der Entwicklung nicht sonderlich förderlich. Eher stimme ich der Idee zu, den Eltern von vorneherein, zum Beispiel im Rahmen öffentlicher Richtlinien, deutlich zu machen, dass das Stillen emotionaler Bedürfnisse (Cremers und Krabel 2014, S.12), in unserem Fall aber auch das gemeinsame Spielen und Tanzen mit Körperkontakt einhergeht, die Kinder aber auch jederzeit bei solchen Übungen pausieren können.

Sollte es zu kritischen Gesprächen zwischen Eltern und Lehrkraft kommen, sollte sich diese nicht in eine Sonderrolle als Mann drängen lassen, sondern immer aus der objektiven pädagogischen Sicht argumentieren (Waniliek 2014, S.29). Werden von Eltern Gerüchte oder Verdächtigungen gestreut, so sollte dies unter Kolleg/innen und Arbeitgeber/in offen besprochen werden, die Kinder allerdings nicht einbezogen werden (vgl. Zimmermann 2017).

Zimmermann (2017) schlägt außerdem vor, Männer sollten gegenüber den Eltern von den eigenen Kindern berichten, um Vertrauen aufzubauen. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob Männer ohne Familie (oder schwule Männer, die im Kontext Kindergarten am ehesten Misstrauen erfahren) eher des Missbrauchs verdächtigt werden dürften. Das sollte selbstverständlich nicht der Fall sein, weshalb ich davon abraten würde, sich über eine eigene Familie zu rechtfertigen. Dies gehört nämlich ebenfalls in die Kategorie „In eine Sonderrolle als Mann drängen lassen statt pädagogisch objektiv zu argumentieren“.

Möglicher Umgang mit verliebten Teenager/innen

Wenn Teenager/innen oder Erwachsene sich in ihre Instrumentallehrkraft oder Chorleiter/in verlieben und diese/r davon erfährt, empfiehlt Zimmermann (2017) in ihrem Blog, körperliche Distanz zu wahren und für den Unterricht notwendige Berührungen anzukündigen. Außerdem sollte sich die Lehrkraft nicht dauerhaft sehr dicht neben dem Schüler oder der Schülerin aufzuhalten und distanziert und höflich zu sein, eventuell sogar auf das gegenseitige Sie zu bestehen. Auch wenn die Eltern eine immer geringere Rolle spielen, können sie bei Jugendlichen ab und an den Unterricht beobachten und sich selbst überzeugen, wie der Umgang zwischen Lehrkraft und Schüler/in ist. Dass im Zweifelsfall keine privaten Verabredungen stattfinden sollten, um die Professionalität zu wahren, scheint selbstverständlich, schwierig wird es allerdings beim Weihnachtsliederspielen in gemütlicher Runde im Wohnzimmer der Lehrkraft oder Nachholstunden, die beim Jugendlichen stattfinden. Solche Anlässe können ungewollt das Gefühl erzeugen, die Lehrkraft sei bester Freund oder gar an mehr interessiert.

Auch an dieser Stelle schlägt Zimmermann (2017) vor, der Lehrer solle immer wieder Kinder und Partner/in erwähnen, um Schülerinnen deutlich zu machen, er sei keinesfalls an einer Beziehung interessiert. Aus den gleichen Gründen wie oben genannt sehe ich das kritisch, denn es ist keinesfalls so, dass verheiratete Männer generell keine Affären hätten, noch so, dass Lehrkräfte ohne Partner/in von Schüler/innen (die ja auch im Alter der Lehrkraft sein können) angeflirtet werden wollen.

________________________

Quellenverzeichnis und weiterführende Literaturhinweise

Aigner, J. C.; Koch, B.; Poscheschnik, G.; Rohrmann, T.; Strubreither, B.: Theoretischer Hintergrund. In: Aigner, J.C.; Rohrmann, T. (Hrsg.): Elementar – Männer in der pädagogischen Arbeit mit Kindern. Insbruck 2011, S.17-98.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Männliche Fachkräfte in Kindertagesstätten. Berlin 2015. [https://www.bmfsfj.de/blob/94268/a974404ff4a9f51a20136bfc8a1e2047/maennliche-fachkraefte-kitas-data.pdf; abgerufen: 13.11.2019]

Cremers, M.; Krabel, J.: Generalverdacht und sexueller Missbrauch in Kindertagesstätten – eine erste Bestandsanalyse. In: Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (Hrsg.): Sicherheit gewinnen – Wie Kitas männliche Fachkräfte vor pauschalen Verdächtigungen und Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen können. Berlin 2014; S.6-17. [/mika.koordinationmaennerinkitas.de/uploads/media/06_Broschuere_Sicherheit_gewinnen_01.pdf; abgerufen: 12.11.2019]

Krabel, J.; von Balluseck, H.; Djafarzadeh, P.: Männer in Kitas, Erzieher unter Generalverdacht und warum Sexualpädagogik in jede Kita gehört. Auf: ErzieherIn.de – Das Portal für die Frühpädagogik. 2013. [https://www.erzieherin.de/maenner-in-kitas-erzieher-untergeneralverdacht.html#commentsAnchor; abgerufen: 12.11.2019]

Nier, H.: Männliche Kita-Mitarbeiter noch immer Seltenheit. Auf: statista.com, 2018. [https://de.statista.com/infografik/14678/maennliche-paedagogische-fachkraefte-in-kitas/; abgerufen: 13.11.2019]

Scherler, S.: Keine Gleichberechtigung – männliche Erzieher unter Generalverdacht. Auf: Hasepost.de. 2019. [https://www.hasepost.de/keine-gleichberechtigung-maennlicheerzieher-unter-generalverdacht-144313/; abgerufen: 13.11.2019]]

Wais, M.: Was tun bei Verdacht auf Missbrauch? Auf: Erziehungskunst.de. 2010. [https://www.erziehungskunst.de/artikel/was-tun-bei-verdacht-auf-missbrauch/; abgerufen: 13.11.2019]

Waniliek, R.: Wie Männer dem „Generalverdacht“ begegnen können. In: Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (Hrsg.): Sicherheit gewinnen – Wie Kitas männliche Fachkräfte vor pauschalen Verdächtigungen und Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen können. Berlin 2014; S.29-30. [/mika.koordination-maennerinkitas.de/uploads/media/06_Broschuere_Sicherheit_gewinnen_01.pdf; abgerufen: 12.11.2019]

Zimmermann, G.: Sexueller Missbrauch im Musikunterricht – zwei Seiten einer Medaille. Auf: Musikdidaktik.net. 2017. [https://musikdidaktik.net/2017/01/sexueller-missbrauch-imunterricht-die-2-seiten-einer-medaille/; abgerufen: 12.11.2019]